familie [Einschulungsfeier 1951 - 2011]

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Viel Ähnlichkeit mit der Anarchie

Der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton über die Familie, den Ort von Freiheit und Abenteuer

Ein paar grundkluge, in unserer heutigen Dekadenz bestens bewanderte Männer haben die Familie heftig artackiert.
Sie kritisieren sie - aber, wie ich meine, fälschlicherweise; und ihre Verteidiger verteidigen sie - aber in fal-
scher Weise. Das übliche Plädoyer für die Familie lautet, inmitten der Spannungen und Wechselfälle des Lebens sei
sie ein Hort des Friedens, der Freundlichkeit und der Einmütigkeit. Möglich ist aber auch ein anderes und meines
Erachtens naheliegendes Plädoyer für die Familie: dass sie kein Hort des Friedens, der Freundlichkeit und der Ein-
mütigkeit ist.
Es ist heut nicht schick, sich über die Vorzüge der kleinen meinschaft zu verbreiten. Empfohlen wird uns, große
Reiche und große Ideen anzuvisieren. Einen Vorzug aber hat der kleine Staat, die Stadt oder das Dorf, und nur wer
sich willentlich blind macht, kann ihn übersehen. Wer in kleiner Gemeinschaft lebt, lebt in einer viel größeren Welt.
Er weiß entschieden mehr über die drastischen Artunterschiede und unaufhebbaren Divergenzen zwischen den Menschen.
Der Grund dafür liegt auf der Hand. In der großen Gemeinschaft können wir unsere Gefährten für uns aussuchen. In der
kleinen Gemeinschaft werden die Gefährten für uns ausgesucht. In allen großen und hochzivilisierten Gesellschaften
kommt es zur Bildung von Gruppen, die auf sogenannter Sympathie beruhen und die die wirkliche Welt nachdrücklicher
nach draußen verbannen, als Tore eines Klosters es könnten. Wirkliche Beschränktheit herrscht nicht im Klan; sie
herrscht in der Gruppe der Gleichgesinnten. Die Mitglieder des ersteren leben zusammen, weil sie alle den gleichen
Tartan tragen oder alle von derselben heiligen Kuh abstammen; ihre Seelen aber sind, dem göttlichen Glück sei Dank,
stets vielfarbiger als das bunteste Schottentuch. Die Mitglieder der zweiten jedoch leben zusammen, weil sie alle
die gleichen Seelen haben, und ihre Beschränktheit hat jenes geistig Geschlossene und Einheitliche an sich, wie es
in der Hölle herrscht. Eine große Gesellschaft ist dazu da, Gruppen von Gleichgesinnten herauszubilden. Eine große
Gesellschaft ist eine Gesellschaft zur Förderung der Beschränktheit. (…)
Jene modernen Autoren, die mehr oder weniger unverblümt sagen, die Familie sei eine schlechte Institution, haben
sich im allgemeinen darauf beschränkt, mit viel Schärfe, Bitterkeit oder Pathos festzustellen, dass die Familie
nicht immer sehr bequem ist. Sie ist gerade deshalb nützlich, weil sie so viele Divergenzen und Spielarten enthält.
Sie ist, mit den Worten des Gefühlsmenschen, wie ein kleines Königreich und - nicht anders als die meisten Königrei-
che - meis-tens in einem Zustand, der viel Ahnlichkeit mit der Anarchie hat. (…)
Hierin besteht das erhabene und eigentümliche, das romantische Abenteuer Familie. Ein solches ist sie, weil sie vom
Zufall regiert wird. Weil sie all das ist, was ihre Feinde ihr nachsagen. Weil sie willkürlich ist. Weil sie da ist.
In allen Gruppen, in denen Menschen sich nach rationale Kriterien zusammenfinden, herrscht eine Atmosphäre der Beson-
derheit oder des Sektierertums. Erst in jenen Gruppen, in denen Menschen sich nach irrationalen Kriterien zusammen-
finden, hat man es mit Menschen zu tun. Erst jetzt entsteht etwas wie Abenteuer; denn das Abenteuer ist seinem Wesen
nach etwas, das uns zustößt - das uns auswählt, statt dass wir es auswählen.

Aus dem Essayband “Ketzer” von Gilbert Keith Chesterton (l874 - 1936)
Keith Chesterton schuf “Father Brown”


Für die Kinder ist die Familie heute ein Paradies. Sie dürfen und bekommen alles. Mit der ersten Scheidung werden sie dann daraus vertrieben. isolde 21.01.14